Sechs bis acht schwarze Männer
Ich war nie ein großer Freund von Reiseführern; um mich zurechtzufinden, frage ich daher, wenn ich in eine mir unbekannte amerikanische Stadt komme, als Erstes den Taxifahrer oder den Hotelportier irgendeine dumme Frage über die Zahl der Einwohner. Ich sage »dumme«, weil es mich eigentlich nicht interessiert, wie viele Leute in Olympia, Washington, oder Columbus, Ohio, wohnen. Die Städte sind okay, aber Zahlen bedeuten mir nichts. Meine zweite Frage betrifft vielleicht die durchschnittliche jährliche Niederschlagsmenge, aber auch die sagt mir nichts über die Leute, die diese Stadt zu ihrer Heimat erwählt haben.
Was mich wirklich interessiert, sind die im Staat geltenden Waffengesetze. Darf ich versteckt eine Waffe tragen, und wenn ja, unter welchen Bedingungen? Wie lange muss man auf eine Maschinenpistole warten? Könnte ich eine Glock 17 kaufen, wenn ich frisch geschieden wäre oder vor kurzem meinen Job verloren hätte? Aus Erfahrung weiß ich, dass man sich diesen Themen so behutsam wie möglich nähern sollte, besonders dann, wenn man ganz allein mit einem Bewohner der betreffenden Stadt in einem relativ kleinen Raum sitzt. Hat man aber Geduld, bekommt man meist ein paar hervorragende Geschichten zuhören. Zum Beispiel habe ich erfahren, dass Blinde in Texas und in Michigan ganz offiziell jagen dürfen. In Texas müssen sie einen Begleiter dabeihaben, der sehen kann, aber in Michigan, habe ich gehört, können sie ganz alleine losziehen, was als Erstes die Frage aufwirft: Wie finden sie das, was sie geschossen haben? Und gleich als zweites: Wie kriegen sie es nach Hause? Dürfen Blinde in Michigan auch Auto fahren? Ich frage nicht deshalb nach Waffen, weil ich gerne selbst eine hätte, sondern weil die Antworten sich von Bundesstaat zu Bundesstaat gewaltig unterscheiden. In einem Land, das immer einheitlicher wird, empfinde ich diese letzten Farbtupfer des Regionalismus als aufbauend.
In Europa sind Feuerwaffen kein Thema, sodass bei meinen Reisen ins Ausland meine erste Frage meist den Stalltieren gilt. »Wie krähen bei Ihnen die Hähne?«, ist eine gute Frage, um das Eis zu brechen, da jedes Land eine ganz eigene Vorstellung davon hat. In Deutschland, wo die Hunde »wau wau« machen und sowohl Frösche wie Enten »quak« sagen, begrüßt der Hahn den Morgen mit einem kräftigen »kikeriki«. Griechische Hähne krähen »kiri-a-kii«, und in Frankreich machen sie »coco-rico«, was so klingt wie eins von diesen fürchterlichen alkoholischen Mixgetränken, bei dem ein Pirat auf dem Etikett zu sehen ist. Wenn ich erkläre, dass die Hähne in Amerika »cock-a-doodle-doo« sagen, sehen mich meine Gastgeber immer nur ungläubig und mitleidig an.
»Wann werden die Weihnachtsgeschenke ausgepackt?«, ist eine andere gute Frage, um ins Gespräch zu kommen, da die Antwort viel über den jeweiligen Nationalcharakter verrät. Dort, wo die Geschenke traditionellerweise am Heiligen Abend ausgepackt werden, scheinen die Leute eine Spur frommer und familienverbundener zu sein als die, die damit bis zum Weihnachtsmorgen warten. Sie gehen zur Messe, packen die Geschenke aus, essen spät zu Abend, gehen am nächsten Morgen wieder zur Kirche und verbringen den Rest des Tages damit, ein weiteres üppiges Mahl zu verspeisen. Die Geschenke sind meist den Kindern vorbehalten, und die Eltern übertreiben es in der Regel auch nicht. Für mich wäre das nichts, aber ich denke, es ist was für jene, die Essen und die Familie Dingen von echtem Wert vorziehen.
In Frankreich und Deutschland werden die Geschenke am Heiligen Abend verteilt, während die Kinder in den Niederlanden ihre Geschenke am 5. Dezember, dem Nikolaustag, auspacken. Das kam mir seltsam vor, bis mich ein Mann namens Oscar auf dem Weg von meinem Hotel zum Amsterdamer Bahnhof über die Details aufklärte.
Anders als der fröhliche, fettleibige amerikanische Santa ist der Heilige Nikolaus übertrieben dünn und ähnlich wie der Papst gekleidet, wobei die Krönung seines Gewands sein hoher Hut ist, der aussieht wie ein bestickter Kaffeewärmer. Die Tracht, so wurde mir erklärt, stammt noch von seinem vorherigen Amt, als er Bischof in der Türkei war.
»Entschuldigung«, sagte ich, »könnten Sie das noch einmal wiederholen?«
Man will nicht gerne als kultureller Chauvinist auftreten, aber das kam mir alles grundfalsch vor. Zum einen hat Santa nie wirklich etwas gearbeitet. Er hat sich deshalb auch nicht auf sein Altenteil zurückgezogen, und was noch wichtiger ist, er hat nie etwas mit der Türkei zu tun gehabt. Da ist es viel zu gefährlich, und die Leute dort würden ihn auch nicht wirklich haben wollen. Danach gefragt, wie er von der Türkei zum Nordpol gelangte, erklärte mir Oscar im Ton tiefster Überzeugung, der Heilige Nikolaus wohne gegenwärtig in Spanien, was ebenfalls einfach nicht wahr ist Obwohl er wahrscheinlich wohnen könnte, wo er wollte, hat Santa sich den Nordpol ausgesucht, gerade weil es dort so unwirtlich und einsam ist. So kann niemand ihn ausspionieren, und er muss keine unliebsamen Besucher an der Tür fürchten. In Spanien kann jederzeit irgendwer vor der Tür stehen, und in seinem Aufzug würde er überall gleich erkannt. Vor allem aber, abgesehen von ein paar freundlichen Floskeln, spricht Santa kein Spanisch. »Guten Tag. Wie geht’s? Möchtest du ein paar Süßigkeiten?« Prima. Und wahrscheinlich könnte er sich so durchschlagen, aber für mehr reicht es nicht, und er mag bestimmt keine Tapas.
Während unser Santa auf einem Schlitten fliegt, kommt die holländische Version mit dem Boot und steigt anschließend auf ein weißes Pferd um. Das Ereignis wird im Fernsehen übertragen, und eine große Menge versammelt sich am Ufer, um ihn zu empfangen. Ich bin mir nicht sicher, ob es dafür ein festes Datum gibt, aber in der Regel trifft der Nikolaus Ende November ein und bleibt für ein paar Wochen und fragt die Leute, was sie wollen.
»Und er ist ganz allein?«, fragte ich. »Oder bringt er ein paar Einsatzkräfte mit?«
Oscars Englisch war nahezu perfekt, aber mit einem Wort, das normalerweise die Verstärkung von Polizeitruppen bezeichnet, kam er nicht klar.
»Helfer«, sagte ich. »Hat er irgendwelche Elfen dabei?«
Vielleicht bin ich überempfindlich, aber irgendwie fühlte ich mich persönlich beleidigt, als Oscar die bloße Vorstellung als grotesk und realitätsfremd abtat. »Elfen«, sagte er. »So was Albernes.«
Die Wörter albern und realitätsfremd erhielten eine neue Bedeutung, als ich erfuhr, dass der Heilige Nikolaus allen Ernstes mit »sechs bis acht schwarzen Männern« unterwegs war. Ich bat mehrere Holländer um eine genauere Zahl, aber keiner wollte sich festlegen. Immer waren es »sechs bis acht«, was reichlich seltsam erscheint, wenn man bedenkt, dass sie mehrere Jahrhunderte Zeit hatten, einmal genau nachzuzählen.
Die sechs bis acht schwarzen Männer galten bis Mitte der fünfziger Jahre als leibeigene Sklaven, bis sich das politische Klima änderte und entschieden wurde, anstelle von Sklaven handle es sich lediglich um gute Freunde. Nach meinem Dafürhalten hat die Geschichte gezeigt, dass immer noch etwas zwischen Sklaverei und Freundschaft kommt, nämlich ein Zeitraum, der nicht von Gebäck und gemütlichen Stunden am Kamin geprägt ist, sondern von gegenseitiger Feindschaft und Blutvergießen. Auch den Niederlanden ist diese Gewalt nicht fremd, aber anstatt sie offen untereinander auszutragen, beschlossen Santa und seine ehemaligen Sklaven, sie an der Bevölkerung auszulassen. Wenn ein Kind früher ungezogen war, wurde es vom Heiligen Nikolaus und seinen sechs bis acht schwarzen Männern mit »dem dünnen Ast eines Baumes« geschlagen, wie Oscar sich ausdrückte.
»Einer Rute?«
»Genau«, sagte er. »Das meinte ich Sie traten es und schlugen mit einer Rute nach ihm. Und wenn es ein besonders ungezogenes Kind war, steckten sie es in einen Sack und nahmen es mit nach Spanien.«
»Der Heilige Nikolaus tritt Kinder?«
»Na ja, mittlerweile nicht mehr«, sagte Oscar. »Heute tut er nur so, als würde er sie treten.«
Er hielt dies für progressiv, aber in meinen Augen ist es in gewisser Weise noch perverser als die tatsächliche Strafe. »Ich tu dir weh, aber nicht wirklich.« Wie oft sind wir darauf hereingefallen? Der bloß gespielte Schlag trifft zuletzt doch immer und fügt dem, was zuvor schlicht und einfach Furcht vor der Strafe war, noch die Elemente von Schock und Betrug hinzu. Was ist das für ein Weihnachtsmann, der so tut, als würde er die Leute treten, um sie anschließend in einen Jutesack zu stecken? Und dann sind da natürlich noch die sechs bis acht früheren Sklaven, die jeden Moment durchdrehen können. Darin besteht, denke ich, der größte Unterschied zwischen uns und den Holländern. Gewisse Teile der Bevölkerung könnten sich mit diesem Brauch wohl anfreunden, aber wenn man dem Durchschnittsamerikaner erklärte, dass sechs bis acht namenlose schwarze Männer sich nachts in sein Haus schlichen, würde er Fenster und Türen verbarrikadieren und sich bis an die Zähne bewaffnen.
»Sechs bis acht, sagten Sie?«
In den Jahren vor der Zentralheizung stellten holländische Kinder ihre Schuhe vor den Kamin, dem Versprechen folgend, dass der Heilige Nikolaus und die sechs bis acht schwarzen Männer, sofern sie nicht vorhatten einen zu schlagen, zu treten oder in einen Sack zu stecken, Süßigkeiten in die Holzschuhe stopfen würden. Abgesehen von der Androhung von Gewalt und Entführung ist das nicht großartig anders als unsere Variante, seine Strümpfe am Kaminsims aufzuhängen. Da mittlerweile kaum noch jemand einen funktionstüchtigen Kamin im Haus hat, werden die holländischen Kinder dazu angehalten, ihre Schuhe vor die Heizkörper, Brennöfen oder Radiatoren zu stellen. Der Heilige Nikolaus und die sechs bis acht schwarzen Männer kommen auf Pferden, die vom Vorgarten auf das Dach springen. Von dort, nehme ich an, springen sie entweder wieder herunter und nehmen die Tür, oder sie bleiben dort und gelangen in atomisiertem Zustand durch Rohre und Leitungskabel ins Haus. Oscar war sich über die Details nicht ganz im Klaren, aber wer wollte ihm das verübeln? Wir haben schließlich das gleiche Problem mit unserem Weihnachtsmann. Er soll durch den Kamin kommen, aber selbst wenn man keinen hat, kommt er doch irgendwie rein. Es ist besser, nicht zu genau darüber nachzudenken.
Auch wenn acht fliegende Rentiere nicht so leicht zu schlucken sind, unsere Weihnachtsgeschichte ist dagegen vergleichsweise einfallslos. Santa lebt mit seiner Frau in einem abgelegenen Dorf am Pol und verbringt eine Nacht im Jahr damit, um die Welt zu reisen. Wenn man böse war, wird man mit Ruß angeschwärzt. Wenn man lieb war und in Amerika lebt, bekommt man von ihm beinahe alles, was man sich wünscht. Wir ermahnen unsere Kinder, schön artig zu sein, und schicken sie ins Bett, wo sie lange wach liegen und sich die bevorstehende Bescherung ausmalen. Holländische Eltern haben da ihren Kindern eine entschieden kniffligere Geschichte beizubringen: »Hört zu, vielleicht möchtet ihr vor dem Schlafengehen noch ein paar Sachen packen. Der ehemalige Bischof der Türkei kommt heute Nacht mit sechs bis acht schwarzen Männern. Vielleicht stecken sie Süßigkeiten in eure Schuhe, vielleicht stecken sie euch aber auch in einen Sack und verschleppen euch nach Spanien, oder vielleicht tun sie nur so, als wollten sie euch treten. Wir wissen leider auch nicht mehr, aber wir möchten, dass ihr Bescheid wisst.«
Das ist die Belohnung dafür, in den Niederlanden zu leben. Als Kind bekommt man diese Geschichte erzählt, und als Erwachsener verkehren sich die Rollen, und man darf sie selber weitererzählen. Als besonderes Bonbon hat die Regierung noch die Legalisierung von Drogen und Prostitution draufgelegt – wie soll man da nicht froh sein, Holländer zu sein.
Oscar beendete seine Geschichte genau vor dem Eingang zum Bahnhof. Er war ein höflicher und interessanter Mensch – und sehr unterhaltsam –, aber als er anbot, bis zur Ankunft meines Zuges zu warten, wimmelte ich ihn unter dem Vorwand ab, ich müsste noch einige Anrufe erledigen. Als ich allein in der riesigen, pulsierenden Bahnhofshalle saß, inmitten tausender höflicher, scheinbar interessanter Holländer, kam ich mir irgendwie zweitklassig vor. Gewiss, die Niederlande waren ein kleines Land, aber es hatte sechs bis acht schwarze Männer und eine wirklich grandiose Gutenachtgeschichte. Als vergleichssüchtiger Mensch fühlte ich zunächst Eifersucht, dann Bitterkeit. Ich näherte mich dem Gefühl offener Feindseligkeit, als ich an den blinden Jäger denken musste, der allein in die Wälder von Michigan stapft. Er mag ein Reh zur Strecke bringen oder im Jagdfieber einem Camper in den Bauch schießen. Er mag den Weg zurück zum Wagen finden oder ein, zwei Wochen durch die Gegend irren und zuletzt durch deine Hintertür stolpern. Wir können es nicht mit Sicherheit sagen, aber indem er sich seine Jagderlaubnis an die Brust heftet, inspiriert er zu der Sorte von Geschichten, derentwegen ich letztendlich stolz bin, Amerikaner zu sein.